
Familie Blatt
Hersz, Fajga, Leon Blatt
Familie
Lebensdaten






Biografie
Leon Blatt
Leon Blatt wurde 1890 in Izbica geboren. Er heiratete Fajga Felicja Berger aus Lublin. Das Paar lebte in Izbica. Sie bekamen zwei Söhne: 1927 Toivi Hersz Ber und sechs Jahre später Hersz.
Die jüdische Gemeinde Izbica wurde erstmals Anfang des 15. Jahrhunderts urkundlich erwähnt. 1750 wurde die Stadt offiziell als Wohnort für Jüdinnen und Juden anerkannt. Izbica entwickelte sich in der Folgezeit zu einem jüdischen Schtetl und zu einem Chassidischem Zentrum, einer religiös-mystischen Strömung im Judentum. Es gab ein reges jüdisches Leben in der Stadt. Das größte Gebäude war die 1855 errichtete Synagoge. 1939 lebten rund sechsausend Menschen in Izbica, davon waren achtzig Prozent jüdischen Glaubens. Diese arbeiteten vor allem als Handwerker und Händler. Die Stadt bestand vor dem Zweiten Weltkrieg aus einfachen Holzhäusern, es gab weder eine Kanalisation, noch Strom.
Leon Blatt hatte einen Laden zum Verkauf von Wein und Wodka. Dank dieser Konzession verfügte die Familie über ein festes Einkommen. Die Familie war nicht streng gläubig. Leon gehörte zu den „progressiven Juden“ - er ging ins Gebetshaus, aber nur an Shabbat. In der Familie Blatt hielt man sich nicht unbedingt an die Regeln für koschere Ernährung. Von Vater Leon ist überliefert, dass er gerne Schinken aß. Das erste Haus der Familie Blatt hatte der Urgroßvater in Izbica errichtet, das auch die nachfolgenden Generationen bewohnten. Mit dem gesicherten Einkommen aus der Konzession und dem eigenen Haus galt die Familie als wohlhabend.
Fajga Blatt
Fajga Felicja Blatt, geboren Berger, wurde 1897 in Lublin geboren. Ihre Herkunftsfamilie wohnte in Lublin in der Cyrulicza- und später in Królewska-Straße 2. Bevor sie Leon heiratete, arbeitete sie als Lehrerin. Nach der Heirat lebte sie mit ihrer Familie in Izbica. Sie brachte zwei Söhne zur Welt: Toivi Hersz Ber, geboren am 15. April 1927 und 1933 den jüngeren Hersz. Fajga führte den Haushalt und kümmerte sich um die Kinder.
Hersz Blatt
Über Hersz Blatt ist wenig bekannt. Hersz Blatt wurde im Jahre 1933 in Izbica als Sohn von Leon Blatt und Fajga geboren. Er wohnte mit seinen Eltern und dem sechs Jahre älteren Bruder Toivi in Izbica.
Toivi Blatt
Toivi besuchte in Izbica die Schule. Über seine Schulzeit wissen wir: Der Unterricht dauerte bis 14 Uhr. Danach ging er in die jüdische Schule, in den „Cheder”. Im Cheder lernten Mädchen und Jungen gemeinsam. Die Lehrer waren Polen. Nur Hebräisch- und ReligionslehrerInnen waren jüdischen Glaubens. Und es gab einen jüdischen Musiklehrer. Toivi musste hebräische Texte lesen, die er meist nicht verstand. Toivi langweilte sich und das Lernen fiel ihm schwer. Allerdings sprach er sehr gut Jiddisch und Polnisch. Er konnte es kaum abwarten, den Cheder verlassen zu dürfen.
Samstag Abend, wenn der Shabbat zu Ende war, begaben sich die jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner auf die Hauptstraße. Sie machten einen Spaziergang von einem Ende zum anderen. Ganze Familien waren unterwegs. Sie hatten ihre beste Kleidung angezogen und feierten auf diese Weise das Ende des Sabbats. Toivi nahm daran nie teil, aber seine Mutter Fajga nahm den kleinen Hersz an der Hand und sie spazierten wie all die anderen auf und ab.
Die Zeit der deutschen Besatzung
1939, als der Krieg begann, war Toivi zwölf Jahre alt. Zuerst kamen die sowjetischen Soldaten für zwei Wochen nach Izbica, die sich danach wieder hinter den östlich gelegenen Fluss Bug zurückzogen. Der Bug war als Grenzfluss vereinbart worden und trennte nach dem Molotow-Ribbentrop-Pakt das deutsch besetzte Gebiet von der Sowjetunion. Izbica wurde von den Deutschen besetzt. Im Dezember wurden dreitausend Jüdinnen und Juden aus KoƗo und Łódż nach Izbica deportiert.
Im Jahre 1941 verwandelten die Deutschen Izbica in ein Ghetto. Aus dem Warthegau wurden Jüdinnen und Juden nach Izbica verschleppt. Izbica war ein offenes Ghetto – es gab keinen Zaun. Wer sich außerhalb des Ghettos aufhielt war von Todesstrafe bedroht. Im Ghetto herrschte Hunger, Enge, Krankheit, Tod. Im Frühjahr 1942 spitzte sich die Situation weiter zu. Die ersten Transporte in die Todeslager begannen. Gleichzeitig kamen Tausende Jüdinnen und Juden aus Nazideutschland, aus dem Konzetrationslager Theresienstadt, aus Wien, aus Luxemburg an. Izbica wurde zu einem Transitghetto auf dem Weg in die Mordlager Sobibor und Belzec. Einer der letzten Deportationszüge verließ Anfang November Izbica. An diesem Tag wurden zudem eintausend bis zweitausend GhettobewohnerInnen auf dem jüdischen Friedhof erschossen.
Die Familie Blatt war sich ihrer aussichtlosen Situation bewußt. Mit gefälschten Papieren versuchte Toivi Ende 1942 nach Ungarn zu fliehen. Er wurde in Stryj verhaftet. Wie durch ein Wunder kam er wieder frei und kehrte im April 1942 nach Izbica zurück. In der Kleinstadt war damals nur noch eine Handvoll Juden übrig, die in der Gerberei arbeiteten. Der Rest war bereits in die Mordstätten nach Bełżec und Sobibór deportiert worden.
Am 23. April verschleppten die Deutschen alle Jüdinnen und Juden aus Izbica, auch jene, die in der Gerberei arbeiteten. Die letzten jüdischen Menschen von Izbica wurden mit Lastwagen über das Lager Trawniki in das Mordlager Sobibor deportiert. Die Eltern von Toivi, Leon und Fajga, sowie sein Bruder Hersz wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Sobibor in der Gaskammer ermordet.
Toivis Abschied von der Familie
Über seinen Abschied von seiner Familie an der Rampe von Sobibor schrieb Toivi Blatt später. „Einige Jungen in meinem Alter blieben bei ihren Müttern. Mein zehnjähriger Bruder ließ meinen Vater stehen ging hinüber zu meiner Mutter, deren Hand ich noch immer hielt. ... ich lehnte mich hinüber und küßte meine Mutter rasch auf die Wange Ich wollte etwas sagen, denn mir war klar, daß wir für immer auseinandergingen. Aber aus Gründen, die ich noch heute nicht verstehe, sagte ich völlig unvermittelt zu meiner Mutter: „Und ich durfte gestern die Milch nicht austrinken. Du wolltest unbedingt noch welche für heute aufheben.” Langsam und traurig wandte sie sich zu mir und sah mich an. „An so etwas denkst du in so einem Augenblick?” Noch heute verfolgt mich diese Szene, und ich bereue meine sonderbare Bemerkung. Wie sich zeigen sollte waren das meine allerletzten Worte an sie. Ich würde alles geben, um jenen Augenblick noch einmal heraufbeschwören zu können, um es anders zu machen, sie zu umarmen und ihr zu sagen, daß ich sie liebe, aber 1943 waren wir längst zu Automaten geworden, zu seelenlosen Schatten.”
Toivi überlebte
Im Lager wurden Menschen zur Arbeit gebraucht. Toivi überstand als Einziger der Familie die Selektion und wurde zur Arbeit ausgesucht. Toivi arbeitete bei der Befestigung der Umzäunung des Lagers und beim Sortieren und Verbrennen von Kleidung und Dokumenten.
Er war bereits ein halbes Jahr im Lager als es dort am 14. Oktober 1943 zum Aufstand der Häftlinge kam. Die anwesenden deutschen Täter wurden unter verschiedenen Vorwänden in die Werkstätten gelockt. Sobald sie dort auftauchten, wurden sie getötet und entwaffnet. Innerhalb einer Stunde töteten die in den Plan eingeweihten Häftlinge elf Deutsche mit Messern und Äxten und nahmen ihre Waffen an sich. Toivi konnte mit 300 weiteren Häftlingen fliehen, von denen allerdings nur etwa 60 den Krieg überlebten.
Nach der Flucht aus dem Lager versteckte sich Toivi mit zwei Freunden bei einem Bauern in der Nähe von Izbica, den sie dafür bezahlten. Eines Tages wollte dieser Bauer die drei Versteckten erschießen. Er tötete zwei von ihnen.Toivi wurde am Kiefer verwundet, er konnte jedoch fliehen. Danach verbarg er sich in den Dörfern in der Nähe von Izbica - in Ostrzyca und Mchy, wo er bis zum Kriegsende überlebte.
Nach dem Krieg lebte er in Polen und heiratete. Im Jahre 1959 emigrierte er in die Vereinigten Staaten. In den USA leben eine Tochter und ein Sohn mit ihren Familien.
Der Ort, an dem seine Familie ermordet wurde, ließ ihn jedoch niemals los. Er sagte bei Prozessen gegen die Täter von Sobibor und Izbica mehrmals vor deutschen Gerichten aus. Immer wieder kehrte er in seine alte Heimat zurück, besuchte Izbica und Sobibór. Er setzte sich jahrzehntelang dafür ein, dass die Geschichte von Sobibor bekannt und die Opfer nicht vergessen werden. In dem Rahmen engagierte er sich auch für die Einrichtung eines ersten kleinen Museum, das nach der politischen Wende 1993 entstand, ein. Er teilte seine Geschichte und Erfahrungen bereitwillig. Dazu zählt auch sein Buch "Nur die Schatten bleiben" aus dem Jahr 2009.
Toivi Tomasz Blatt starb am 31. Oktober 2015 in Santa Barbara in Kalifornien/USA.
Verwendete Dokumente und Literatur
Jules Schelvis, Obóz zagłady w Sobibórze, Państwowe Muzeum na Majdanku, Lublin, 2021
Database Yad Vashem
Brama Grodzka – Teatr NN - Zeugnis vom 9. November 2004
Thomas Toivi Blatt – Nur die Schatten bleiben, 2009